Unsere Koffer waren schon gepackt. Der Urlaub in den hohen Bergen war, wie immer, viel zu kurz gewesen. Nur ein sonniger Nachmittag blieb uns noch. Wir wollten ihn nutzen, um ein paar besonders schöne Fotos zu schießen.
Eine Herde Kühe auf einer bunten Blumenwiese, dahinter die gewaltigen schneebedeckten Berge im Sonnenschein, ein sicher millionenfach abgelichtetes Motiv. Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Eine der Kühe lag mit aufgetriebenem Bauch auf der Seite. „Die arme Kuh ist krank“ dachten wir. Also doch keine „Heile – Welt“ Fotos.
Aber dann kam uns die Erkenntnis: „Die Kuh war nicht krank, sie kalbte“. Vor unseren Augen kamen zuerst die Beine, dann der Kopf und schließlich ein fertiges kleines Kälbchen zum Vorschein. Der ganze Vorgang hatte kaum mehr als eine halbe Stunde gedauert. Wir waren so fasziniert, dass wir beinahe das Fotografieren vergessen hätten.
Die Kuhherde verhielt sich da wesentlich professioneller. Die eine oder andere Tante kam von Zeit zu Zeit, um während des Geburtsvorganges die Gebärende zu berühren und ihr tröstend über den Kopf zu lecken. Aber als das Kälbchen schließlich auf der Welt war, da liefen alle Kühe sofort, als würden sie einem geheimen Ruf folgen, von der ganzen Weide zusammen. Sie stellten sich ganz nah um Mutter und Kind, und es sah aus, als würden sie sich verneigen. Dann betrachteten sie, wie wir auch, aus gebührendem Abstand, wie die Mutter ihr Neugeborenes trocken leckte und wenig später schon die ersten Stehversuche, die das neue Herdenmitglied mutig mit Hilfe seiner Mama unternahm.
Die Sonne schien auf das Idyll und wir konnten uns nicht satt sehen an dem kleinen Wunder. Eine Frau mit einem Fahrrad holte uns in die Wirklichkeit zurück. „Ist dieses Kalb dort gerade zur Welt gekommen?“ fragte sie. Wir bestätigten das mit leuchtenden Augen. „Wo kommen sie her?“ wollte sie wissen.“ Aus Berlin“. „Aus der Stadt? und sie haben miterlebt wie das Kalb geboren wurde?“ „Ja!“ Die Frau schüttelte richtig den Kopf. „Ich wohne seit zwölf Jahren hier und habe es noch nie gesehen“, murmelte sie, schwang sich auf ihr Rad und fuhr davon.
Erst jetzt wurde uns richtig bewusst, was uns Südtirol für ein schönes Abschiedsgeschenk gemacht hatte. Lächelnd fuhren wir am nächsten Tag nach Hause, denn jetzt wussten wir ganz sicher, wir kommen wieder.
(von Heidemarie Roßa)